Problematik von Talentsichtung und Förderung


Ich arbeite seit 1985 im Talentförderprogramm des Landes Hessen, das seit 1992 in Form von Talentaufbaugruppen (TAG, Grundschule) und Talentfördergruppen (TFG, weiterführende Schulen) organisiert ist. Im Februar 2000 verfasste ich die folgende kritische Stellungnahme zur aktuellen Konzeption dieses Programms.


 

09.02.2000

Landesprogramm «Talentsuche – Talentförderung»

Eine kritische Betrachtung

Nach nunmehr 8 Jahren Tätigkeit als Leiter von TAGs in diversen Grundschulen und TFGs im Bereich Basketball bin ich heute mehr denn je überzeugt, dass das Landesprogramm „Talentsuche – Talentförderung“ in seiner gegenwärtigen Form kein optimales Konzept zur Förderung des Leistungssports ist. Diese Feststellung, die überwiegend den Bereich der Grundschul-TAGs betrifft, vertreten seit Jahren in zahlreichen Sitzungen auch die anderen TAG- und TFG-Leiterinnen und -leiter im Bereich des Wiesbadener Schulsportzentrums, ohne dass dies Veränderungen der Konzeption bewirkt hätte.


Die immer wieder genannten Kritikpunkte sind folgende:

 

Am Anfang steht die nach wie vor ungeklärte Problematik des Talentbegriffs und der diesbezüglichen Sichtungskriterien. Wenn überhaupt, lässt sich Schnelligkeit als einziges halbwegs brauchbares motorisches Kriterium anwenden, da sie eindeutig von genetischen Faktoren (Muskelstruktur) abhängt. Die Anforderungsprofile der verschiedenen Sportarten sind allerdings viel zu komplex und vielschichtig, um ein allgemeines sportliches Talent über sportmotorische Tests definieren zu können.

Dazu der Kernsatz aus dem aktuellen Buch von Winfried Joch „Das sportliche Talent“: „Die Validität sportmotorischer Tests ist im Hinblick auf komplexe sportmotorische Wettkampfleistungen weitgehend ungeklärt“ (S. 203).
Ein Beispiel: Bei einem Talentförderprojekt des Deutschen Leichtathletik-Verbandes auf nationalem Niveau in den Disziplinen Hürdenlauf und Weitsprung bei A-Jugendlichen stellte sich heraus: „Obwohl Spezialtrainer die Tests ausgewählt und unter sportartspezifischer Perspektive zusammengestellt hatten, ließ sich weder ein Zusammenhang zwischen Testleistung und Wettkampfleistung noch ein solcher zwischen Testleistungsverbesserung und Wettkampfleistungssteigerung nachweisen“ (S. 202).
Wenn das schon für die Leichtathletik gilt, trifft es für die weitaus komplexeren Spielsportarten, bei denen kognitive und mentale Fähigkeiten eine weit größere Rolle spielen, erst recht zu!
An den von mir betreuten Grundschulen haben wir bisher drei Sichtungsverfahren gewählt, ohne dass sich eines davon als halbwegs probat erwiesen hätte:
1. Die SportlehrerInnen (soweit überhaupt vorhanden!) wählen im Rahmen des Sportunterrichts (soweit er denn überhaupt stattfindet!) ihrer Ansicht nach besonders talentierte Kinder aus und empfehlen diesen per Anschreiben an die Eltern die Teilnahme an der TAG. Rückmeldung der Lehrkräfte: Sie fühlen sich mit der Aufgabe, die sportliche „Spreu vom Weizen“ zu trennen, absolut überfordert.
2. Der TAG-Leiter besucht den Schulsport und sichtet selbst. Größtes Problem neben dem erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand: wie und nach welchen Kriterien erkennt man in kürzester Zeit vermeintliches sportliches Talent?
3. Alle Eltern von Kindern der zu sichtenden Klassenstufe erhalten ein Schreiben, in dem sie gebeten werden, ihre Kinder in die TAG zu schicken, sofern sie sie für sportlich talentiert halten. Ergebnis: 40 bis 50 Kinder in den ersten TAG-Stunden zwingen den TAG-Leiter zu einer Negativauswahl, die für mindestens jedes zweite Kind Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühle bedeutet.

Ganz gleich, welche Kriterien zur Anwendung kommen: Talentsichtung in dieser Altersstufe bedeutet in der Praxis vor allem Selektion von Frühentwicklern. Akzelerierte Kinder schneiden in sportmotorischen Tests besser ab als retardierte und Normalentwickler. Eine Aussage über deren Talent lässt sich damit nicht treffen. Wenn man weiß, dass die Differenz zwischen kalendarischem und biologischem Alter in dieser Alterstufe plus minus drei Jahre betragen kann, wird die Sinnlosigkeit solcher Auswahlverfahren deutlich.
Das trifft auch auf die jährlich durchgeführten sportmotorischen Tests der TAGs zu.
Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Einer meiner aktuellen Basketballspieler, Ante Bartulovic, war, als er Ostern 97 in der TAG/TFG-Gruppe mit Basketball anfing, dick, langsam, unbeweglich und konnte mit Mühe geradeaus laufen. Er erreichte meistens die Mittellinie, wenn die anderen gerade vom Angriff zurück kamen. Sein eigener Vater charakterisierte ihn (wörtlich) als „faulen, chipsfressenden Fernsehglotzer“. Er entwickelte aber einen solchen Ehrgeiz und Trainingseifer, dass er es inzwischen zum Leistungsträger im Verein und in den HBV-D-Kader schaffte. Nach sportmotorischen Kriterien hätte ich ihn damals sofort „aussortieren“ müssen.

Die im Handbuch „Vielseitige sportartübergreifende Grundausbildung“ formulierten Zielsetzungen sind zu großen Teilen völlig unrealistisch. Jeder Sportstudent im vierten Semester weiß, dass mit einer einzigen wöchentlichen Trainingseinheit nicht ernsthaft Ziele in den Bereichen Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit angestrebt werden können, schon gar nicht in dieser Altersgruppe. Der einzig sinnvolle (und legitime) Schwerpunkt kann nur im Bereich der koordinativen Fähigkeiten und Fertigkeiten liegen. Um in anderen Bereichen gezielt zu arbeiten, müsste die TAG mindestens zweimal wöchentlich stattfinden.

Der Übergang von den zahlreichen TAGs in die verschiedenen TFGs funktioniert absolut nicht. Kinder aus anderen TAGs als meinen eigenen tauchen in den Basketball-TFGs praktisch nicht auf. Dies ist auch die Erfahrung der anderen Übungsleiter. Wenn die Kinder am Ende der vierten Klasse nicht bereits in eine TFG und einen damit verbundenen Verein integriert sind, gehen sie dem Programm in der Regel verloren.

Leistungssportkonzeptionen wie in der ehemaligen DDR sind auf unser politisches System (zum Glück) nicht übertragbar. Da die Möglichkeit, Kindern eine ihrer Begabung entsprechende Sportart zu diktieren, nicht gegeben ist, müssen Interessen und Motivationslagen bei der Talentfindung viel stärker berücksichtigt werden.

Der Beginn sportartspezifischer Trainingsarbeit ab Klasse 5 liegt für die meisten Sportarten viel zu spät, da die Sichtungen der Verbände schon in dieser Altersgruppe einsetzen. Quereinsteiger und Spätentwickler bleiben außen vor.

Erfolg stellt sich daher vor allem dort ein, wo man sich nicht an die Vorgaben des Programms hält!
Turner als TAG-Leiter geben beispielsweise offen zu, dass sie mit ihren Gruppen ausschließlich Turnen, weil die Wettkampfstruktur es erfordert und weil von der Beschäftigung mit anderen Sportarten, insbesondere mit Ballspielen, kein positiver Transfer auf turnerische Fähigkeiten zu erwarten sei.
Im Basketball läuft die TAG/TFG-Arbeit in Wiesbaden erst richtig erfolgreich, seit ich mit interessierten (nicht vermeintlich talentierten) Grundschülern in zusätzlich eingerichteten TAG/TFG-Gruppen arbeite und diese gleichzeitig im Verein (BC Wiesbaden) als Wettkampfmannschaft antreten lasse. Diese Maßnahme ist unumgänglich, um den Sichtungsmaßnahmen des Verbands gerecht zu werden, die inzwischen schon bei Neunjährigen beginnen.
1999 wurde die D-Jugend (Jahrgang 86/87) des BC Wiesbaden dank dieses Konzepts Vize-Hessenmeister. Sechs der zehn Spieler stammen von der Hebbelschule.

Die Tatsache, dass man mit einer „Schulmannschaft“ auf Vereinsebene so erfolgreich sein kann, legt Schlussfolgerungen nahe. Da es äußerst unwahrscheinlich ist, dass man an einer einzigen Grundschule auf eine besondere Häufung von Basketballtalenten stößt, sind offensichtlich ganz andere Faktoren entscheidend für sportlichen Erfolg.
Meine aus der Praxis gewachsene Überzeugung lautet:

1. Begeisterung ist wichtiger als Begabung, Trainingsfleiß ist wichtiger als (vermeintliches) sportmotorisches „Talent“, Interesse ist wichtiger als idealtypische Voraussetzungen
2. Jedes Kind, das nicht an körperlichen Behinderungen leidet, hat sportliches Talent und kann es bei entsprechender Förderung zu Spitzenleistungen bringen
3. Sportliche interessierte Grundschulkinder, die an TAGs teilnehmen, haben schon klare Pri-oritäten bezüglich ihrer bevorzugten Sportarten und sollten auch dementsprechend gezielt gefördert werden. Bei der momentanen Struktur der TAGs ist dies nicht möglich
4. Das Grundschulalter ist nach dem Modell der sensiblen Phasen das beste Lernalter zur Entwicklung der Koordination. Dies betrifft sportartspezifische und allgemeine Elemente gleichermaßen. Die Forderung muss daher lauten: nicht allgemeine sportliche Grundschulung bis zur 4. Klasse und anschließend darauf aufbauendes sportartspezifisches Training, sondern spezifisches Training bereits im Grundschulalter sowie parallel dazu eine unterstützende allgemeine sportliche Grundausbildung!

Die genannten Aspekte legen folgenden Vorschlag zur Veränderung der Konzeption nahe:

Für mehrere benachbarte Grundschulen, im optimalen Fall in der näheren Umgebung eines Schulsportzentrums, werden, im Hinblick auf die weiterführenden TFGs, mehrere sportartgerichtete TAGs eingerichtet. Diese finden zweimal wöchentlich statt.

In diesen Gruppen wird bereits sportartspezifisch gearbeitet, die Hälfte der Zeit ist allerdings weiterhin der sportartübergreifenden Grundausbildung vorbehalten.

Gleichzeitig bieten die jeweils kooperierenden Vereine je eine weitere Trainingseinheit an, in der nach dem gleichen Verfahren trainiert wird. Im Idealfall leitet der TAG-Leiter/die TAG-Leiterin auch die Vereinsgruppe.

Die Gruppen sind offen für alle Kinder der beteiligten Grundschulen, Eingangstests oder Auswahlverfahren finden nicht statt.

Die Vorteile dieses veränderten Konzepts:·

Optimale Entwicklungsmöglichkeiten für alle Kinder entsprechend ihrer bevorzugten Sportart, ohne Vernachlässigung der unverzichtbaren allgemeinen sportlichen Grundausbildung

Frühzeitige Anbindung der Kinder an die Vereine und TFGs, der bisherige Schwachpunkt Übergang TAG/TFG wird eliminiert

Deutliche Arbeitserleichterung für die TAG-LeiterInnen, die sich weniger mit unzufriedenen, nörgelnden Kindern auseinandersetzen müssen („Ich will aber lieber …“), da jedes Kind weiß, dass es sich die Hälfte der Zeit mit seiner Lieblingssportart beschäftigen darf.

Im Übrigen bin ich absolut überzeugt, dass die Hauptursache für die Probleme des deutschen Leistungssports, die sich in einer Vielzahl von Sportarten durch nachlassende Leistungen im Jugend- und Juniorenbereich und z.B. auch durch das zuletzt deutlich gestiegene Durchschnittsalter der Olympiateilnehmer offenbaren, nicht in der mangelnden Talentsichtung zu suchen ist, sondern im flächendeckend mangelhaften Sportunterricht in den Grundschulen und Kindergärten, der die Talententwicklung verhindert!

Ein Hochhaus lässt sich nur auf einem soliden Fundament hochziehen, und erfolgreicher Leistungssport kann sich nur aus einer gesunden breitensportlichen Basis entwickeln. Und gerade diese verkümmert hierzulande immer mehr.

Durch meine langjährige Tätigkeit (1983-87) an diversen Mainzer Kindergärten im Rahmen des Projekts „Sport im Elementarbereich“ der Universität Mainz sowie durch die Arbeit im Landesprogramm „Talentsuche – Talentförderung“ habe ich einen ausgezeichneten Überblick über die traurige Situation des Sports im Kindergarten- und Grundschulbereich bekommen.

In Kindergärten findet, abgesehen von gelegentlichen Sing- und Bewegungsspielen, in aller Regel kein Sportunterricht statt. Ursächlich ist hier in erster Linie die mangelhafte Sportausbildung der ErzieherInnen, die eine Sportqualifikation in einem einwöchigen Zusatzlehrgang des LSB „Sport im Elementarbereich“ erlangen können. Meine beiden Kinder trieben in ihrer Kindergartenzeit praktisch keinen Sport unter Anleitung, Turnbeutel hängen über Monate ungenutzt an den Haken, Bewegungszeiten gibt es nur bei schönem Wetter im Freigelände.

Viele Grundschulen haben keine einzige Lehrkraft mit Fakultas im Fach Sport, der Sportunterricht wird zudem allzu gerne anderen Aktivitäten geopfert, und wenn er denn stattfindet, verdient er häufig nicht diese Bezeichnung. Sport wird an Grundschulen häufig fachfremd und damit entsprechend unqualifiziert unterrichtet: Aus Angst vor Unfällen beschränken sich die damit betrauten Lehrkräfte verständlicherweise zumeist auf harmlose Bewegungsspiele und gymnastische Übungen. Aus diesem Grund unterrichte ich beispielsweise in der Grundschule Erbach/Rhg. ehrenamtlich zwei Wochenstunden Sport, um der Klasse meiner Tochter wenigstens eine Minimalversorgung zu bieten.

Auch die Ausbildung für das Lehrfach Sport im Studiengang Lehramt an Grundschulen schafft mit gerade einmal 20 Semesterwochenstunden (verteilt auf 6 Semester), mit Schwerpunktlegung auf Psychomotorik und Sportförderunterricht, sicher keine Voraussetzungen, um Kinder auf spätere Laufbahnen im Leistungssport vorzubereiten.
Die meisten GrundschullehrerInnen stehen den TAGs zudem sehr kritisch gegenüber. Häufigster Kritikansatz: warum sollen wir ein Leistungssportkonzept mittragen, wenn noch nicht einmal die Grundversorgung gewährleistet ist.

Bekanntlich weist inzwischen jedes zweite Grundschulkind eine Haltungsschwäche auf.

Die Misere an den Grundschulen manifestiert sich in den von Jahr zu Jahr zunehmenden Klagen der Sportlehrerinnen und -lehrer an den weiterführenden Schulen über das immer schlechter werdende Leistungsniveau der Fünftklässler.

Das Ergebnisse einer Studie des Karlsruher Sportwissenschaftlers Klaus Bös belegt diese Tatsache: Das Durchschnittskind im Alter von 10-12 Jahren bewegt sich heute gerade noch eine Stunde täglich, davon 15-30 Minuten intensiv. Dem gegenüber stehen neun Stunden sitzen und fünf Stunden stehen.

Es ist nicht verwunderlich, dass unter diesen Umständen dem Sport immer mehr Talente verloren gehen, weil ihre Begabungen nicht ausreichend entwickelt und gefördert werden. Ist das beste motorische Lernalter aber erst einmal verpasst, ist der Zug zum Leistungssport abgefahren, denn das koordinative Lernen ist abhängig vom Reifungsprozess des Zentralnervensystems, der im frühen Schulkindalter besonders schnell vonstatten geht und mit dem Einsetzen der Pubertät weitgehend abgeschlossen ist. Nach diesem Zeitpunkt werden im Gehirn keine neuen Verknüpfungen mehr gebildet. Bewegungsabläufe, die bis dahin nicht erlernt wurden, können daher später nur mit erheblich größerem Trainingsaufwand eingeübt werden, sind nicht mehr vollständig zu automatisieren und stehen deshalb auch nicht variabel zur Verfügung, d.h. unter Belastung und in überraschenden Situationen kommt es häufig zu Fehlern.

Gäbe es einen flächendeckend qualifizierten und auch quantitativ angemessenen Sportunterricht in der Grundschule, genauer gesagt, die tägliche Sportstunde (die von Sportlehrerverbänden seit Jahrzehnten gefordert wird) bei einer ausgebildeten Lehrkraft, bräuchte man sich um den Leistungssport keine Sorgen zu machen.
Als angenehmer Nebeneffekt ergäbe sich eine erhebliche Kostenreduzierung im Gesundheitswesen, denn das Gros dieser Aufwendungen entsteht nachweislich durch Bewegungsmangel in Verbindung mit falscher Ernährung. Die Grundlagen für dieses Fehlverhalten werden im Kindesalter gelegt. Eine zunehmend bewegungsärmere Umwelt begünstigt zusätzlich diese bedenkliche Tendenz.

Die Ausgaben für die Behandlung von Sportverletzungen und –schäden liegen dagegen nach Schätzungen der Krankenkassen im Promillebereich.

Leider ist die Politik für solche langfristigen Ziele nur selten zu gewinnen.

Das Aktionsprogramm ist zwar im TFG-Bereich durchaus sinnvoll und produktiv, ist aber kaum mehr als der Tropfen auf den heißen Stein. Die Mehrzahl der Kinder, die Talente wären, wenn man sie frühzeitig gefördert und gefordert hätte, erreicht man mit diesem Konzept nicht mehr.

Günter Steppich